Graefekiez

Mein Graefekiez

Seit fünfunddreissig Jahren wohne ich nun hier in der Graefestraße - noch immer im gleichen Haus, in das ich 1982 einzog.
Mit der Zeit hat sich hier natürlich einiges verändert. Ich denke da etwa an den Eisenwarenladen, der in den Neunzigern schließen musste und wo man seine Nägel noch in kleine Tütchen abgezählt bekam.
Dort, wo der Inhaber hinter dem Laden seine kleine Werkstatt hatte, und wo man auch mal seinen kaputten Wasserkessel hin brachte, wenn der wieder eine neue Lötstelle brauchte, und der Herr Erdmann sich nach mir und meiner Familie erkundigte, und es ihn freute, wenn es allen gut ging (ich muss gerade lächeln, weil ich weiss, dass er es aufrichtig meinte), ist jetzt ein Restaurant.
Da sitze ich heute am Fenster, hinter dem damals Leitern standen, wo Töpfe hingen und Gartenscheren lagen. Und wenn ich heute Tellerklirren höre, woher einst Hammerschläge und Bohrgeräusche drangen, dann wird mir das Konzept der Zeit bewusst – dass alles seine Berechtigung zu seiner Zeit hat und dass der Wandel ein Grundbaustein der Entwicklung ist.
Nur, denke ich – könnte der Wandel bei einigen Dingen auch ruhig später einsetzen.
Ich vermisse meinen kleinen Eisenwarenladen – ich muss jetzt immer in den Baumarkt. Da krieg ich nur eine Packung mit 250 Nägeln, auch wenn ich nur drei davon brauche. Und niemand fragt mich, wie es mir geht.
Aber sonst habe ich alles hier im Kiez.
Der beste und leckerste Bäcker gleich nebenan, den Bioladen, Apotheken, der Spätkauf, Edeka, Restaurants und Supermärkte.
Einen Copyshop, den Uhrmacher, der mir alle Jahre wieder neue Batterien einsetzt, meinen Kunstmalerbedarf, bei dem ich Stammkunde bin, einen Getränkemarkt, ein Kino und ein Krankenhaus die Straße hoch.
Meinen Hausarzt, eine Seele von Mensch.
Der Fahrradladen, wo ich Luft aufpumpen kann, ist mir genau so lieb wie der Eisladen, den ich im Sommer regelmäßig heimsuche.
Nur ein Postamt fehlt, aber alles kann man wohl nicht haben.
Nach ein paar hundert Metern Richtung Norden ist man am Landwehrkanal, und die gleiche Strecke nach Süden bringt mich in die Parklandschaft der Hasenheide.
Hier könnte man leben, ohne den Kiez praktisch zu verlassen, und vermutlich tun das auch ein paar. Und vermutlich bin ich fast einer von denen.
Aber wenn man hier so lange wohnt, dass man Straßenbäume hat wachsen sehen, möchte man nach all den Jahren auch nicht mehr weg - von dieser kleinen Insel im Meer der Stadt.

von Karl Klar
Karl Klar (geboren in Ostwestfalen) macht Gemälde, Zeichnungen und Medienkunst.
Auf der Suche nach neuen Methoden zur "Lektüre der Stadt" konzentriert er sich auf die Idee des "öffentlichen Raums": Der nicht-private Raum, der immer dann privat wird, wenn er als Lieblingsort erkoren wird. Karl Klar lebt und arbeitet derzeit in Berlin-Kreuzberg.

Wegbeschreibung
U7 Südstern U8 Schönleinstrasse
Bus M41 hält direkt Graefestr.