Abholzte Maulbeerbäume an der ehemaligen Gemeindeschule Kynaststraße Ecke Marktstraße

Pyramus und Thisbe am Ostkreuz oder Wie man einem exotischen Gast den Garaus machte

"Aber Du Baum, der mit seinen Ästen den Körper eines einzelnen bedauernswerten bedeckst, bald wirst Du zwei bedecken, bewahre die Zeichen des Blutes und trage als Zeichen des Todes immer dunkle, der Trauer angepasste Früchte, als Andenken an zweifach vergossenes Blut!“ So sprach sie und stürzte in das Schwert dessen Spitze sie unterhalb der Brust angesetzt hatte, das vom Blut noch warm war."
Diese Zeilen stammen von Ovid und behandeln den Freitod des Liebespaares Pyramus und Thisbe unter einem Maulbeerbaum. Die Maulbeerbäume dienen seitdem als Warnung an die Eltern, sich nicht gegen die Liebe ihrer Kinder zu stellen. Vielleicht sollten einige davon in Kreuzberg angepflanzt werden, bloß da braucht das liebende Mädchen sich nicht in die Schwertklinge zu stürzen, das erledigt schon ihre Familie.
Die riesigen Maulbeerbäume, die ihre Zweige über die gemauerte Umfriedung der Fachhochschule an der Ecke Kynaststraße streckten, habe ich lange nicht beachtet und die Beeren für giftig gehalten. Mein spanischer Freund wußte es besser. Er kannte Maulbeerbäume aus seiner Heimat und ermunterte mich die Beeren zu probieren. Sie schmeckten wie Holunderbeeren und sollen sehr gut bei Diabetes sein. Zu uns gesellte sich auch noch ein freundliches, barfüßiges Ökomädchen mit handgewebtem Fransenrock und hüftlangen Locken, die ebenfalls Maulbeeren pflückte. Ich hoffe, dass sie keine Schuhphobie hat.
Carlos hat mir erzählt, dass er in seiner Kindheit immer in einer Schachtel Seidenraupen mit Maulbeerblättern gefüttert hat und wartete bis sie sich eingepuppt haben und sich nach und nach ein Schmetterling entwickelte.
Das muss für ihn ja fast so sein, als wenn ein Deutscher in Afrika auf eine Kiefer trifft, die sich da allen Widrigkeiten zum Trotz durchgebissen und mit den Verhältnissen arrangiert hat.
Die ganze Ecke an der Kynaststraße ist im Zuge der Erneuerung vom Bahnhof Ostkreuz neu gemacht worden, und die herrlichen Maulbeerbäume mussten natürlich auch dran glauben.
In dem Gebäude der ehemaligen Fachhochschule, die jetzt ein Touristenhotel ist, war von 1908 bis nach dem Krieg eine Gemeindeschule. Ich habe angenommen, dass ein Lehrer bei einer Bildungsreise nach Spanien vor hundert Jahren, während er mit Botanisiertrommel und Schmetterlingsnetz bewaffnet durch die Extremadura wanderte, ein paar Samen des Maulbeerbaums in die Tasche seines Gehrocks gleiten ließ, um sie in seiner Gemeindeschule am Ostkreuz mit seinen Schülern im Arboretum auszusäen und später auf dem Schulhof anzupflanzen. Er wollte damit den rachitischen Berliner Arbeiterkindern ein Stück von der Welt mitbringen, die für sie unerreichbar ist.
Da habe ich mich aber wohl geirrt. Die Maulbeerbäume wurden schon nach dem 30jährigen Krieg in Brandenburg kultiviert, weil man selbst Seide herstellen wollte. Die Samen und die Raupen bekamen die Leute kostenlos. Eine zweite Phase gab es noch im 19. Jahrhundert und eine dritte, wovon wohl die Bäume am Ostkreuz stammen, in den dreißiger Jahren, als die Nazis Fallschirmseide produzieren wollten.
Besonders Schulen wurden aufgefordert, Maulbeerbäume anzupflanzen und mit den Blättern die Seidenraupen zu füttern. Da hat mein Freund also gar nicht mal so weit danebengelegen mit seinen Kindheitserinnerungen.
Bestimmt können sich einige alte Leute aus der Gegend aus ihrer Schulzeit noch an ähnliches erinnern.
Die exotischen Zuwanderer aus einer heißeren Klimazone hatten sich hier am Ostkreuz gut eingewöhnt und tiefe Wurzeln geschlagen und hätten noch viele Jahre vor sich gehabt. In Schilda soll es einen Maulbeerbaum geben der 500 Jahre alt ist. Viele Jahrzehnte standen die Bäume mit Migrationscharakter hier am Ostkreuz, wiegten bedächtig die Köpfe beim Anblick der Bordsteinschwalben in der Kynaststraße, blickten traurig auf die Bahngleise gleich nebenan und träumten sehnsüchtig von ihrer fernen, sonnigen Heimat im Süden. Dann kamen die Bagger.
Die Bäume haben bestimmt auch viele von den Friedrichshainer Kindern überlebt, die sie pflegten und mit ihren Blättern die Seidenraupen gefüttert haben. Deren einzige Gelegenheit, ein Stück von der Welt zu sehen, war wohl der 2. Weltkrieg. Dafür haben viele mit dem teuersten was sie hatten bezahlt, mit ihrem Leben und ihre Gebeine bleichen heute weit weg vom Ostkreuz in Stahlingrad und an den Küsten der Normandie.
Ich habe mal vor vielen Jahren einen Film über eine kanadische Baumaktivistin gesehen, die gegen die Abholzung hundertjähriger Baumriesen kämpfte. Sie und und ihre Freunde hatten sich in den Baumkronen Baumhäuser gebaut und bekamen über einen Seilzug Essen von Unterstützern. Sie war erst 17 und hatte noch den Idealismus der Jugend. Solange sie auf den Bäumen lebten, trauten sich die Mitarbeiter der Abholzungsfirma nicht, mit der Arbeit zu beginnen.
Überhaupt hat man in Berlin etwas gegen gesunde Bäume. Am Rummelsburger Ufer sind Bäume angepflanzt worden, die nun schon jahrelang elendiglich vor sich hinmickern, aber wo ein gesunder kräftiger Baum steht wird zur Säge gegriffen.
Bei mir auf dem Hof meiner ehemaligen Wohnung in der Neuen Bahnhofstraße 31 stand auf dem Hinterhof ein riesengroßer Kastanienbaum. Wenn mich Freunde besuchten und vom Vorderhaus in den Hinterhof traten, waren sie jedes Mal erschlagen von der Schönheit dieses Baumes. Ich habe nie verstanden, woher er seine Lebenskraft genommen hat.
Jedenfalls als das Haus Anfang der 90er an den westdeutschen Eigentümer zurückgegeben wurde, war seine erste Amtshandlung, den Baum fällen zu lassen. Ich habe immer gedacht, dass es dazu zig Genehmigungen bedarf. Ich hatte dann endlich freie Sicht auf die Mülltonne und brauchte mir nicht mehr von Blättergeraschel und Vogelgezwitscher den Nerv rauben zu lassen, und den Anblick der Kastanienblüte brauchte ich auch nicht mehr zu ertragen.
"Vieles ist töricht an eurer Zivilisation. Wie Verrückte lauft ihr weißen Menschen dem Geld nach, bis ihr so viel habt, daß ihr gar nicht lang genug leben könnt, um es auszugeben. Ihr plündert die Wälder, den Boden, ihr verschwendet die natürlichen Brennstoffe, als käme nach euch keine Generation mehr, die all dies ebenfalls braucht."
Tantanga Mani in „Weisheit der Indianer“

von Tanja

Wegbeschreibung
Wenn man aus dem S-Bahnhof Ostkreuz tritt, wendet man sich nach rechts, geht die Neue Bahnhofstraße runter bis zur Ampelkreuzung, durchquert den Tunnel linkerhand. Hinter der Unterführung befindet sich schon die Kynaststraße.