Altes Eierhäuschen

Im Banne des Eierhäuschens

Der erste erweckende Kaffee gepaart mit dem unvermeidlichen Frühstücksbrötchen müssen noch warten, denke ich heute frisch erwacht in meinem Bett. Mein Erweckungserlebnis an diesem erwachenden Maitag soll ein Spaziergang im Plänterwald sein. Koffeinfrei möchte ich heute Körper, Geist und Seele besinnen. Den Plänterwald erst einmal erreicht, liegt noch eine milde nächtliche Kühle in der Luft. Durchmischt ist die Morgenluft bereits mit zarter Wärme durchblitzender Sonnenstrahlen und legt sich wohltuend auf meine Haut. Auf meinem Weg durch das wäldliche Unterholz kokettieren verschiedenste Pflanzen, Sträucher und Bäume mit ihrem satten Grün. Die Vögel zwitschern, singen bereits emsig ihre Lieder und fliegen ihren Wegen nach.
Schlendernden Schrittes öffnet sich meines Weges der Wald, gibt einen Blick auf die Spree frei. Linker Hand befindet sich das idyllisch gelegene „Alte Eierhäuschen“. Ein im Landhausstil gehaltenes rotes Bauwerk mit Fachwerkelementen verziert. Es ist ein Urgestein der Treptower Ortsgeschichte, eine gastronomische Legende. Namentlich ist es an diesem Ort in seiner heutigen Gestalt bereits das dritte Gebäude. In seiner Grundsubstanz ist der heute bestehende Bau 1891/92 errichtet worden. Dessen bauliche Vorgänger reichen bis in die 1820er Jahre zurück. Der eigenwillige Name geht vermutlich auf einen Wärter des einst vor Ort befindlichen Holzablageplatzes zurück, der passierenden Schiffsleuten Eier verkaufte. Theodor Fontane beschrieb das Eierhäuschen fast schwärmerisch in seinem 1898 erschienenen Roman „Der Stechlin“ als „sonderlich benamste Spreeschönheit“, in welcher er sich gern aufhielt. Im Wandel der Zeit erlebte das Häuschen eine bewegte Geschichte. Diese fand 1990 mit der Schließung des Lokals ein jähes, bislang vorläufiges Ende. Seither ist die einstige Perle der Treptower Ausflugslokale in einen erbarmungswürdigen Dornröschenschlaf verfallen. Wie schön wäre es, jetzt und hier, in naturellem Ambiente, meinen morgendlichen Kaffee bestellen und genießen zu können, denke ich bei mir. Dieser Wunschtraum kursiert schon seit Jahren durch meinen Kopf.
Selbst aber der alten Treptower Tradition folgend „Hier können Familien Kaffee kochen!“, würde auch ein eigens mitgebrachtes Kaffeetütchen meinen Wunsch nach einem Kaffeeausschank hier nicht erfüllen können. Eine Frau, wie die diese Tradition begründende Kolonistin Taube, die mir aus ihrer Kaffeeküche heraus kochendes Wasser und Geschirr freundlich anreicht, ist hier in Weite und Breite nicht in Sicht.
Kurz reißt mich eine vorüberziehende attraktive, junge Frau mit ihrer langen, blonden Mähne und ihrem Gassi gehenden Hund aus meiner gedanklichen Versenkung. Welche Figur hätte wohl diese adrette Grazie in früheren Epochen hier „Im Banne des Eierhäuschens“ abgegeben, sinniere ich.
Spontan öffnet sich vor meinem geistigen Auge eine Pforte in die Vergangenheit. Zu Fuße des Eierhäuschens befinden sich nun zahlreiche, dicht gereihte Tische, von gut besuchten Stühlen umsäumt, bis weithin an das Spreeufer reichend herrscht ein pulsierendes Treiben. Plötzlich erscheint sie mir wieder, die eben noch leger flanierende „Hundefrau“, an einem der gastlichen Tische. Dieses Mal aber als Abgesandte der wilhelminischen Damenwelt zu des Kaisers alten Zeiten würdig gekleidet. Die schmal geschnürte Taille wird von einer langärmeligen Bluse sittsam bedeckt und findet nach unten hin eine züchtige Fortsetzung in einem ausladenden, knöchellangen Rock. Ihre voluminöse, kunstvolle Steckfrisur wird von einem blumenbeschmückten Hut gekrönt. In großbürgerlichen Habitus nippt sie dabei gebieterisch ihren edlen, kolonialen Bohnenkaffee.
Am Tisch nebenan entdecke ich sie erneut und doch wieder anders. Als lässig, androgyne Femme fatale aus Weimarer Tagen. Der kesse blonde „Bubikopf“ ist von einem eng anliegenden Glockenhut umschlungen. Das schwarze, von einer Perlenkette lang behangene, ärmellose Cocktailkleid vermag mit seiner kurzen Länge, die Knie nicht zu bedecken. Selbstbewusst trinkt sie ihren mit Rum beschussten Pharisäer, während sie hin und wieder ihren elfenbeinfarbenen Zigarettenspitz lasziv zu ihren Lippen führt.
Wieder weiter schweifend erblicke ich sie an einem anderen Tisch, zu wieder anderen Zeiten. Da sitzt die geschmeidige Dame während der dunkelbraunen Ära des Berliner Gauleiters Goebbels. Plötzlich wirkt sie in ihrer Ausstrahlung der national domestizierten deutschen Frauenschaft entlehnt, die nicht denken, sondern fühlen soll. Sie scheint sich ihrer Rolle als gebärfreudige, künftige deutsche Mutter, bereits restlos unterworfen zu haben: Kein Strich Schminke, eine hochgeschlossene Bluse. Ein mehrfarbiger Rock, in dem - der kriegsbedingten Stoffrationalisierung geschuldet - aus abgedienten Stoffen „alt“ zu „neu“ verschneidert wurde, vervollständigen die modische Biederkeit des seinerzeit idealisierten Frauenbildes. Die braune Krönung aber befindet sich in der Kaffeetasse. Des Führers berüchtigter Muckefuck. Ein Kaffee-Ersatz, der im Zuge von damaligen deutschen Autarkiebestrebungen machtvoll gepredigt und gepriesen wurde. Die aus großdeutschen Böden erzeugten Ersatzstoffe zeitigten ein Gebräu, das dem Trinker mehr Entbehrung als Verehrung garantierte.
Diese bedrückende braune Ansicht treibt meinen Blick flüchtend einen Tisch weiter. Ein weiteres, ein letztes Mal tritt meine anmutige Hundedame in die Vergangenheit ein und in ihr neu auf. Taucht auf als wohl geratenes und politisch korrektes sozialistisches Vorzeige-Fräulein im Arbeiter- und Bauernstaat zu frühen Zeiten des Erich-Honecker-Regimes. In ihrem modisch verkrusteten, konformen Äußeren braucht meine Hundehalterin keine kritischen Fragen zu ihrem Klassenstandpunkt befürchten. Dauergewelltes, schulterlanges Haar, der schlanke Körper gehüllt in ein dunkelfarbiges Chemiefaserkostüm der Produktlinie „Präsent 20“ und unvollendet garniert mit altmodischem Muster und Schnitt. Ein entbehrliches Erzeugnis real existierender sozialistischer Modeschöpfung. Hervorgegangen aus der permanent mangelleidenden volkseigenen Textilindustrie. Tapfer trägt mein Arbeiter-und-Bauern-Mädchen den Stoff, aus dem sozialistische Modealbträume gestrickt sind. Krisengeschütteltes gibt es auch in ihrer Kaffeetasse zu sehen: Den „Kaffee-Mix“, auch spöttisch „Erichs Krönung“ genannt, war als Kaffee-Ersatz ein sozialistischer Gaumenkitzel mit dem ausgeprägten Potenzial, Geschmacksnerven zu ruinieren.
Diese erneut so karge kulinarische Einsicht vertreibt mich endgültig aus meiner träumerischen Zeitreise in die Gegenwart zurück. Derzeit ist das „Alte Eierhäuschen“ von einem eisernen Zaun umringt; bemäntelt von Baugerüsten und -planen bleibt es optisch weitgehend verborgen. Mit diesem baulichen Anblick aber hat die Transformation meines „Kaffee-Traumes“ in eine künftig wirklich erlebbare Realität bereits ihren Anfang gefunden. Diese Zeitenwende zu einem in der Zukunft wiedererweckten Lokal hat handfeste Hintergründe: Im Jahre 2014 erfolgte durch den Rückkauf des Erbbaurechtes eine Rückkehr des Eierhäuschens in die Verfügungsgewalt des Landes Berlin. 2015 wiederum wurde die Bereitstellung von 7 Millionen Euro an Fördermitteln für die Sanierung des Baudenkmales durch den Berliner Senat genehmigt. Im Januar 2016 übernahm das landeseigene Unternehmen Grün Berlin GmbH die Zuständigkeit für das Eierhäuschen. Für eine Reanimierung, eine Neuinszenierung sieht das vorliegende Entwicklungskonzept eine gastronomische und kulturell-kreative Nutzung vor. Neben einer neu eröffneten Ausflugslokalität sollen Ateliers und Wohnungen Künstlern ein Refugium bieten. Eine Anbindung mit dem Wassertourismus bzw. der Ausflugsschifffahrt ist ebenso vorgesehen. Die Wiedereröffnung des Eierhäuschens ist für 2018 geplant.
Also werde ich weiterhin und mit gesunder Berechtigung tapfer meinen unerschütterlichen Traum von einem florierenden Eierhäuschen träumen. So manche Träume werden wahr - und wer weiß, eines nicht allzu fernen Tages, bin ich wieder hier, genau an diesem Fleck und werde in tiefenentspannter Gemütlichkeit sitzend einen herrlichen Kaffee trinken. Ja - und vielleicht sehe ich sie dann wieder, am Tisch nebenan, meine fesche Hundedame. Was sie dann wohl nur trinken mag? In welchem Kostüm sie dann ihren Auftritt haben wird? Und - vielleicht schaut sie dann auch mit leuchtenden Augen und einem bezaubernden Lächeln zu mir herüber und sagt flüsternd „Hallo“. So manche Träume werden wahr… .

von L.H.

Wegbeschreibung
Verkehrsanbindung: Bus Nr. 170; Haltestelle „Baumschulenstraße/Fähre“ ca. 5 Minuten Fußweg flussabwärts